Kalte Milch, warme Gebäude
Februar 4, 2021
Noch ist das Schicksal der ehemaligen Martinek-Kaserne südlich von Baden ungewiss. Fest steht jedoch, dass das rund 40 Hektar große Gelände künftig mit einem innovativen Anergienetz klimafreundlich beheizt und gekühlt werden soll. Das AIT Austrian Institute of Technology entwickelt dazu drei Szenarien und wird dabei vom Klima- und Energiefonds im Rahmen des Programms Vorzeigeregion Energie unterstützt.
Ein Anergienetz ist kein Rechtschreibfehler, sondern die Fachbezeichnung für ein Niedertemperaturnetz (4-30°C) zum Heizen und Kühlen. „Im Gegensatz zu einem Fernwärmenetz verfügt ein Anergienetz nicht über eine zentrale Wärmeversorgung, sondern kann dezentral und viel flexibler betrieben werden“, erklärt Edith Haslinger vom AIT Center for Energy. Sie ist Projektleiterin des NEFI-Projekts SANBA – Smart Anergy Quarter Baden.
Abwärme aus Molkerei. Als wichtigste Wärmequelle des geplanten Anergienetzes fungiert die gegenüber der Martinek-Kaserne gelegene Molkerei NÖM – genauer gesagt, die Abwärme aus den Kühlaggregaten ihrer Frischproduktelogistik. Ergänzt wird das Netz durch thermische Solaranlagen, Photovoltaik, Wärmepumpen sowie ein Erdsondenfeld, das als (saisonaler) Speicher dient. „Kurz, SANBA soll alle vor Ort vorhandenen Energiequellen zur Heizung und Kühlung der Gebäude nutzen“, so Haslinger.
Ein entscheidender Faktor des Projekts sind die kurzen Leitungswege. Je nach Szenario – Mini, Midi und Maxi – reichen 1,6 bis 2,4 Kilometer Trassenlänge aus, um das gesamte, 42 Hektar große Areal mit Wärme und Kälte zu versorgen. Das Szenario Mini geht von der ausschließlichen Nutzung der Bestandsgebäude aus, in den Szenarien Midi und Maxi wird eine zusätzliche Bebauung von 50 beziehungsweise 80 Prozent der derzeitigen Freiflächen simuliert.
Koordinierte Planung. Das Projekt wurde und wird in enger Kooperation mit der Stadtgemeinde Baden, dem Bundesdenkmalamt, einem Liegenschaftsentwickler sowie dem bisherigen Eigentümer (Verteidigungsministerium) entwickelt. Parallel zum Projekt in Baden erarbeitet das AIT ein Simulationstool für die flexible Planung weiterer lokaler Niedertemperaturnetze.
Am effizientesten arbeitet das Netz in gut gedämmten Gebäuden mit Flächenheizsystemen wie Wand- und Fußbodenheizungen sowie Kühldecken. Aber auch moderne Heizkörper oder Heizleisten können eingesetzt werden. Nur die alten Gliederheizkörper, die noch aus der Errichtungsphase in den 1930er-Jahren stammen, sollten tunlichst ersetzt werden. „Die Industrie bietet heute auch für denkmalgeschützte Gebäude eine Vielzahl an Komponenten zur thermischen Sanierung und Beheizung an“, sagt Haslinger.
KäuferIn gesucht. Welche Sanierungsmaßnahmen für die einzelnen Gebäude ergriffen und welche Heiz- und Kühlsysteme zum Einsatz kommen werden, liegt in der Hand des künftigen Eigentümers. Die Martinek-Kaserne steht seit 2014 leer und konnte bislang nicht verkauft werden. SANBA könnte nun zu einem wichtigen zusätzlichen Verkaufsargument werden. Denn das Anergienetz ermöglicht eine kostengünstige und klimafreundliche Wärme- und Kälteversorgung.
Durch die räumliche Kompaktheit des SANBA-Energiesystems können in den Ausbauszenarien Midi und Maxi vielversprechende wirtschaftliche Kennzahlen erreicht werden. Die Arbeitsbeläge – die kumulierte Heizwärme, die pro Jahr im Netz nachgefragt wird, bezogen auf die Trassenlänge – betragen in den beiden Szenarien dabei 4,9 bzw. 5,4 MWhth/(a*mTrasse). Damit ist das Projekt in Baden mit erfolgreich realisierten Pilotanlagen in der Schweiz vergleichbar. Der Wärme- und Kältebedarf des Quartiers beläuft sich Simulationsrechnungen zufolge auf 10,9 bzw. 13,7 GWhth/a. Der Elektrizitätsbedarf für den Betrieb des thermischen Energiesystems für Heizung, Kühlung und Brauchwassererwärmung beträgt 2,5 bzw. 3,0 GWhel/a. Die mit den geplanten Photovoltaikanlagen bereitgestellte elektrische Energie beläuft sich auf 5,9 bzw. 7,3 GWhel/a, womit der Strombedarf des thermischen Energiesystems bilanziell mehr als gedeckt ist.
Klimaneutraliät möglich. Unter Berücksichtigung des zusätzlichen Stromverbrauchs für Wohnen, Dienstleistungen und Gewerbe werden im Gesamtsystem elektrische Selbstversorgungsgrade von 0,5 bzw. 0,43 erreicht. Das thermische Energiesystem kann damit jedenfalls als zukunftsweisend und klimaneutral bezeichnet werden. Bei einer Deckung des Rest-Elektrizitätsbedarfs mit Strom aus treibhausgasneutralen Quellen ist auch das Gesamtenergiesystem klimaneutral. In Hinblick auf die Klima- und Energieziele der österreichischen Bundesregierung ist dies also spätestens im Jahr 2030 der Fall.
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